Bitte aufstehen: Philosophen bei Gericht

27 Schülerinnen und Schüler des GaO besuchen im Rahmen des Philosophieunterrichts einen Prozess-Vormittag im Landgericht Bonn.

„Ist ja wie am Flughafen hier“, „Mist, jetzt hab´ ich doch die Schere im Mäppchen vergessen“ – die 27 Schüler/innen des Philosophiekurses der Jahrgangsstufe EF (10) passieren geduldig die Sicherheitskontrollen des Landgerichtes Bonn. Bei strahlendem Sonnenschein haben sie das altehrwürdige Gebäude in der Wilhelmstraße betreten, nun empfängt sie im Inneren ein lichtdurchfluteter, moderner Bau, der es mit jeder Bank aufnehmen kann.
Gemeinsam mit der Fachlehrerin, Frau Prinz, und der Referendarin, Frau Nickel, heißt es erst einmal weiterhin Geduld üben. Es ist Montag Morgen, der 1.4.19, eigentlich sollte um 9.00 Uhr die Verhandlung anfangen, doch leider stehen alle im Stau, so auch der Angeklagte, der aus der Untersuchungshaft, aus der JVA Köln, in einem Sondertransport hergefahren wird.
Spontan springt ein junger Staatsanwalt ein, wirft sich seine schwarze Robe über und stellt den SchülerInnen, die inzwischen im großen Saal Nr. 11 Platz genommen haben, den Fall vor.
Der Angeklagte, ein 43jähriger Mann, soll seine im Krankenhaus liegende alte Mutter von allen lebensverlängernden Gerätschaften abgetrennt haben. Nur durch Zufall hätten die Krankenschwestern dies rechtzeitig bemerkt und so das Leben der 78-Jährigen gerettet.
(Wer Genaueres zum Fall wissen möchte, lese bitte den Artikel im Bonner Generalanzeiger „Bonner Schwurgericht. Sohn wollte Mutter von ihrem Leiden erlösen“ vom 18.2.19)
Man werfe dem Mann versuchten Totschlag vor.
Heute ist der zweite Prozesstag und im Moment ist Beweisaufnahme: Durch Befragung von Zeugen soll der genaue Tathergang geklärt werden, aber auch die Schuldfähigkeit des Angeklagten soll beleuchtet werden. Dieser hat mehrere Psychiatrieaufenthalte wegen Schizophrenie hinter sich.
Der junge Jurist holt aus und erklärt den gebannt lauschenden Anwesenden, was die Justiz mit einer Bestrafung bezweckt: Wenn der Täter nicht bei klarem Bewusstsein sei, könne er gar nicht „schuldig“ sein und damit auch nicht bestraft werden; in diesem Fall käme er nur in eine geschlossene psychiatrische Anstalt. Und dann fallen genau die Begriffe, die die Kursteilnehmer gerade im Philosophieunterricht im Rahmen diverser Straftheorien kennengelernt haben: der Staatsanwalt in kleidsamem Schwarz und Weiß führt aus, man müsse Spezialprävention und Generalprävention unterscheiden, Vergeltung sei nur ein untergeordneter Strafzweck usw. Stolz nicken die Anwesenden, denn sie haben sehr genau verstanden, worum es geht. „Scheint nicht nur im Buch zu existieren, gibt es also im richtigen Leben“ sagen die Gesichter.
Leises Gemurmel, es ist 9.20 und der Angeklagte wird von zwei Justizbeamten in Handschellen hereingebracht. Schlagartig kann man eine Stecknadel fallen hören und die Raumtemperatur sinkt gefühlt um 10 Grad. Der Angeklagte setzt sich und guckt für den Rest des Vormittags teilnahmslos vor sich hin. „Der sah doch eigentlich gar nicht so gefährlich aus“ sagt eine Schülerin im Nachhinein – „Naja, als der Gefängnisbeamte erzählt hat, dass der Typ einem Kollegen einen Teller Suppe ins Gesicht geworfen hat, war ich mir nicht mehr ganz so sicher“ entgegnet eine Mitschülerin.
Drei Krankenschwestern, ein Polizist und ein Gefängnisbeamter werden vernommen. Mit akribischer Genauigkeit fragt der vorsitzende Richter Jansen nach jedem Detail: hätte die Mutter allein an die Sauerstoffflasche kommen können, wie sind die versorgenden Zugänge abzutrennen? Um 12.15 endet der zweite Prozesstag und alle sind sich einig, dass sie sich die Arbeit bei Gericht niemals so mühsam vorgestellt hätte. „Das hat mit amerikanischen Spielfilmen und schwungvollen Plädoyers wenig zu tun“ konstatiert ein Schüler. Dennoch möchte er später gerne Jurist werden. Egal ob künftige Juristen oder skeptische Zuschauer – einen Strafprozess „in Echtzeit“ haben alle Teilnehmer als Bereicherung erlebt.

von Jutta Prinz